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Was wäre wenn ...

 
einsteigen
manchmal folge
ich meinen Wünschen
manchmal verfolgen sie mich
austeigen 
 

Es ist viel los. War zu erwarten. Menschen mit Koffern, Tüten und Rucksäcken bepackt eilen die breite Treppe nach oben auf meinen Bahnsteig. Schieben, drängeln, schubsten. Die Lautsprecher schallen: „Oh du fröhliche…“

Abrupte Unterbrechung. „Auf Gleich 13 läuft in wenigen Minuten ein, der Zug…“, rattert die monotone Computerstimme. Vom Klang her weiblich oder divers. KI gesteuert nennt man das heutzutage. Programmiert von jemand mit IQ. Fragt mich nicht welchen.

Der gläserne Aufzug links von mir spuckt Buntes mit Gepäck, Kinderwägen und Quengelndes an der Hand aus. „Ihr Kinderlein kommet…“ Alle Jahre wieder, geht mir so durch den Kopf und ziehe meine Mütze tiefer in die Stirn. Statt Schnee rieselt Nieselregen herab. Der Klimawandel. Ist jetzt auch so.

Ich mache einen Schritt nach hinten und quetsche mich schubssicher zwischen den Abfahrtszeiten- und Wagenreihungsplan.

Pünktlich rollt der angekündigte Zug ein. Nicht meiner. Den habe ich noch vor mir. Warten.

Tür und Tor“ schließen sich. Keine weitere Ansage. Der Bahnsteig leert sich. Vorläufig. „Stille Nacht, heilige Nacht“

Nicht weit entfernt von mir fällt mir eine kleine, eingemummelte Person in rotem Mantel mit bunter Mütze auf, aus der sich lange, blonde Haare wellen. Ein fröhlicher bunter Punkt. Ein Kind, eine junge Frau? Stand sie nicht schon da, als ich kam?

Ich beuge mich zu ihr, spreche sie an. „War das ihr Zug?“

„Ja“, bestätigt sie, dreht ihr Gesicht zu mir um und schaut mich offen an. Fast erschrecke ich. Sie ist gar nicht jung, wie sie von ihrer Erscheinung wirkt. Um ihre grünen Augen hat ist einen Kranz von Fältchen und ihr Haar ist gar nicht blond, es ist weiß. Schneeweiß. Sie kommt mir bekannt vor. Ich kann sie aber nicht einordnen. War sie mal eine Lehrerin von mir, eine Nachbarin?

Ruhig erwidert sie meinen Blick.

„Ich wollte nicht mehr mitspielen „fröhliche Weihnacht überall…

Überrascht schaue ich sie an und nicke.

„Jahrelang habe ich mich nicht getraut. Leider. Aber heute! Genug ist genug!“ Sie schaut auf ihre prall gefüllte Geschenktüte und drückt sie mir energisch in die Hand.

„Hier nehmen Sie, ich brauche sie nicht mehr“, dreht sich flink um und ist plötzlich in der sich wieder verdichtenden Menschenmenge verschwunden.

Neue Ansage. Mein Zug wird angekündigt, läuft ein.

Was wäre, wenn? Wenn ich nicht einsteige? Aussteigen statt einsteigen, umsteigen, umdrehen, abbrechen, abseilen?

Der Zug hält. Der richtige Wagon kommt direkt vor mir zum Stillstand. Menschen wuseln raus und rein. Noch wenige Minuten. Sekunden.

Weitere Ansage, Türen schließen automatisch. Ein saugendendes Geräusch. Abfahrt. Ich schaue dem Zug nach, winke, drehe mich um und eile davon. „O du fröhliche…“, von einem Bein zum anderen hüpfe ich Richtung Ausgang.

Zuhause schließe ich die Wohnungstüre auf. „Bin wieder da!“, rufe ich.

„Schee…!“, schallt es geschäftig wie fröhlich zurück.

Langsam, streife ich meinen roten Wintermantel ab, dann die Stiefel. Zuletzt ziehe ich die bunte Mütze herunter, betrachte mich im Spiegel, zwinkere mir mit meinen über die Jahre erworbenen Fältchen zu und wuschel durch mein langes, weißes Haar.

„Wie wars?“, sein Lächeln im Spiegel neben mir.

The same procedure as every year“ und halte ihm die Geschenktüte hin.